Velosolex Paris 1975

Mit dem Velosolex nach Paris

Es ist Frühjahr 1975. Das Abi so gut wie in der Tasche, die Verhandlung in Sachen Kriegsdienstverweigerung noch vor mir. Die Freunde zur Gründung einer Wohngemeinschaft schon beisammen, aber weit und breit kein Vermieter, der uns die passende Wohnung vermieten will. Kein Geld für den Führerschein und erst recht nicht für ein Auto. Und dann noch dieses Verlangen nach Faulenzen an fernen südlichen Stränden: Ja, wieder nach Kreta, das wär's! "Ich bin unterwegs nach Süden und will weiter bis ans Meer; will mich auf heiße Kiesel legen und dort brennt die Sonne..." Aber Kreta ist weit, zu weit. Da kommt man so auf Ideen...


Wer fährt mit nach Paris?
Ich weiß nicht mehr, wer auf die Idee kam. Begeistert waren einige, aber nur drei starten tatsächlich mit ihren Mofas Richtung Westen. Meine Freunde Alex und Winfried und ich. Peinlich für alle, dass Alex nur ein Mars-Mofa hat, irgendein Kaufhausmodell, und nicht wie Winfried und ich ein VeloSoleX. Mit dem Mars-Mofa nach Paris? Na ja, soweit wäre es fast auch gar nicht gekommen (das hässliche Mars-Mofa)...
Die Überquerung des Rheins bei Worms, die Fahrt über die Brücke und durch ihren wehrhaft anmutenden Torbogen erscheint uns als erster Triumph - doch bis zum Triumph-Bogen ist's noch weit. Schon in Bad Kreuznach soll die Fahrt, zumindest für Alex, zu Ende sein? Sein Mars-Mofa will einfach nicht mehr. Es bestätigen sich alle Vorurteile: Das Möchtegern-Moped fiel sowieso schon unangenehm auf durch mehr Gerassel, mehr Verbrauch und mehr Gestank, größeres Gewicht und jetzt bremst es nicht nur unsere flotten Solexe aus, sondern bleibt einfach dumm auf der Strecke.
Mechaniker-Meister waren wir alle drei nicht (Alex dachte tatsächlich bis kurz vor unserer Fahrt noch, das Benzin fließe irgendwie in die Reifen...) und so können wir den Schaden erst beheben, als uns ein freundlicher Tankwart auf den gerissenen Gaszug aufmerksam macht.
Wir wollen Trier noch erreichen, doch die Strecke zieht sich und es wird dunkel und kalt. Halb eingefroren sitzen wir wie in Trance auf unseren Maschinen und so komme ich zu meiner ersten und einzigen Fahrt mit dem VeloSoleX auf der Autobahn! Wären da nicht die hupenden Autofahrer und die ständige Angst vor "unangenehmen vibrations" mit den Herren in grün, würde ich die Fahrt richtig genießen können, denn so geht's flott voran und bald erreichen wir Trier mit seiner wenig einladenden Jugendherberge.

Am nächsten Morgen ist es sonnig, aber saukalt. Wie wir bereits ahnten, sind wir perfekt ausgerüstet. Im Geiste sind wir ja "unterwegs nach Süden" (auch wenn's Richtung Westen geht) deshalb haben wir so gut wie nichts dabei. Der gelbe Friesen-Nerz wird über den obligatorischen olivgrünen Parka gezogen, schon ist die Satteltasche fast leer. Der ansonsten höchst unpraktische, da auch von innen wasserdichte Bundeswehr-Schlafsack, ist auf dem Gepäckträger festgezurrt. Später auf schnurgeraden französischen Landstraßen zeigt er ungeahnte Qualitäten, denn er hat Ärmel und dient bei Kälte während der Fahrt als Overall! Alex weiß sich schon jetzt kurz vor der luxemburgischen Grenze zu helfen. An einer Tankstelle leiht er sich eine Schere und schneidet zwei Gucklöcher in seine Pudelmütze, die er dann zum Schutz vor Kälte und, wie er meint, schädlichen Autoabgasen übers Gesicht zieht. Der Tankwart holt seinen Kollegen mit dem Ausruf: "Kumm emol her, do macht eener uf Baader-Meinhoff".
Endlich richtig im Ausland! Doch in Luxemburg will das französische Flair nicht so recht rüberkommen. Ziellos fahren wir durch die edle Hauptstadt und fühlen uns reichlich deplaziert. Nichts wie raus, wieder in die Pampa! Doch wo sollen wir übernachten? Vorgestellt haben wir uns immer irgend welche abgelegenen Heuböden. Hier findet sich am Ende ein sehr beengter Schlafplatz auf einem überdachten Jägerhochsitz. Aber unvergesslich ist diese Nacht in luftiger Höhe zwischen den Baumwipfeln.

Winfried fährt am nächsten Morgen nach Hause. Er bekommt doch Bedenken wegen seiner kurz bevorstehenden Verhandlung zur Kriegsdienstverweigerung. Da musste man sich wirklich ordentlich drauf vorbereiten. Alex und ich fahren weiter nach Westen, aber mit gemischten Gefühlen. Noch zweimal so weit wie bis jetzt; und das alles auch wieder zurück. Aber die Sonne scheint und zu Hause ist nur Alltag - vor uns liegt Frankreich, die Herausforderung.
Wir fahren auf der voie sacrée und wissen nicht so viel mit der Bezeichnung anzufangen. Links und rechts immer wieder Soldatenfriedhöfe und in regelmäßigen Abständen steinerne Ein-Mann-Unterstände am Straßenrand - zu unheimlich, um darin zu übernachten. Auch würde der Sog vorbeirasender Lastwagen uns sicher darin den Atem nehmen; schon beängstigend genug, wenn sie unsere kleinen Fahrzeuge überholen. Lange schnurgerade Alleen mit Berg- und Talfahrten, bringen mich auf die Idee, eine neue Fahrtechnik auszuprobieren: Beim Bergabfahren wird mittels Ausrücksystem ausgekuppelt, ausgemacht und schneller gerollt, als der Motor schieben könnte. Kurz vor dem Anstieg den Motor zum Starten kurz auf den Reifen getippt, und mit Vollgas bei voller Fahrt wieder eingekuppelt, so dass kein Schwung verloren geht! Diese Nacht verbringen wir tatsächlich in einem Heustadl, der aber eher eine riesige Halle mit haushohen Strohballen ist. In der Nacht wird's uns etwas mulmig, weil einer von uns an Feuer denkt. Ungewöhnlich warm ist's unter den Strohballen, kann sich da auch nichts selbst entzünden...?


Was haben wir damals eigentlich gegessen? Heute gefällt mir die Vorstellung eines vor einem Café abgestellten VeloSoleX (und eines Mars-Mofas...) und zwei wild aussehender Kerle, die bei einem Grand Crème und Croissant mit typischen Franzosen am Tresen über Gott und die Welt parlieren. Es war aber anders: Alex kauft gern in kleinen Läden ein und macht ein bisschen auf französischen Charmeur. Dann kauft er bei der alten Dame eine Packung Schmelzkäse und eine Dose Tunfisch, was wir uns dann irgendwo an der Landstraße aufs Baguette legen. Vielleicht eine Folge "ökonomischer Zwänge", eher aber Angst, sich wirklich richtig auf das Abenteuer Frankreich einzulassen.


Endlich wieder eine Großstadt mit ihrer distanziert selbstbewussten Bevölkerung: Reims! Bien sûr, die obligatorische Ehrenrunde mit dem VeloSoleX um die Kathedrale. Reingeschaut haben wir als überzeugte Materialisten und Ungläubige lieber nicht.
Mal was zum Thema Tanken in Frankreich: Wie erkläre ich denn, dass mein VeloSoleX 1:33 möchte? Ich finde hier nur "Melange 4% ou 2%". Dass mir irgendwer Solexine angeboten hätte, daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Ich verlange immer 3% (und kriege sicher was anderes) und meistens passt kein ganzer Liter in den Tank. Von den Bidons Solexine oder Jerry-Babys hatte ich damals weder gehört, noch jemals so was gesehen. Gut, dann soll halt der zu volle Tank erst mal einen Teil seiner Füllung durch das Belüftungsloch im Tankdeckel auf mein Hosenbein verteilen.
Wenn wir heute so lange fahren, wie es unser Hintern und der Rücken mitmacht, kommen wir schon nah an Paris heran. Doch bloß nicht zu nah, denn beim Übernachten in städtischen Gefilden wittern wir "unangenehme vibrations" mit den Flics. Wieder eine Nacht in einem riesigen Strohlager bei Meaux. Morgen sind wir in Paris!

Endlos erscheinen uns die Kilometer durch die Pariser Peripherie. Erst im Herzen Frankreichs sehe ich die ersten VeloSoleX, mit ihrer ungewohnten Lampe am Motor und alle ohne Nummernschild - die reinste Anarchie, das gefällt uns. Ohne Plan, dem Verkehrsfluss folgend, steuern wir über die Champs Elysés direkt den Arc de Triomphe an, drehen ein paar Runden in Todesangst und biegen dann in Richtung Eiffelturm ab. An der Seine muss ich erst mal einen Platten flicken, aber bei allen Eindrücken rundherum geht mir das flott von der Hand.

Alex und ich trennen uns. Ich möchte lieber fahren und mir alles aus VeloSoleX-Perspektive anschaun. Alex möchte gern irgendwo auf dem Montmartre in einem Café (mit seinem Tagebuch) den verarmten und verkannten Schriftsteller mimen. Wir verabreden uns am Abend, um das Problem der Übernachtung zu lösen.
Wir treffen uns bei Notre Dame und erwägen die Spitze der Seine-Insel oder eine der Brücken zum drunter pennen, aber da ist wieder diese Angst vor den Flics. Den ganzen Tag ging mir auf meinem Velo das Chanson "Sous les toîts de Paris,..." durch den Kopf (auf dem VeloSoleX kann man übrigens ungeniert singen, unterlegt durch das Schnurren des Motors). Sous les toîts de Paris! Das wär's doch: Und tatsächlich verbringen wir eine relativ ungestörte Nacht, keine zwei Minuten vom Arc de Triomphe entfernt, auf dem obersten Treppenabsatz eines bourgeoisen Mietshauses. Die Bewohner der Mansardenwohnungen steigen in der Nacht brav über uns drüber. Keine Ahnung, wie wir an der Concierge vorbeikamen. Unsere Mofas standen jedenfalls bis zum Morgen friedlich in der Torhalle.


Wieder ein sonniger Tag in Paris. Heute bin ich es, der seine Zeit in Cafés rund um den Montmartre verbringt. Ich schreibe nur Postkarten und nutze die Örtlichkeit für meine Morgentoilette. Ich kam mir übrigens auf der ganzen Fahrt nie schmutzig oder ungepflegt vor. Waschgelegenheiten finden sich überall, wenn man nicht zu anspruchsvoll ist.
Heute am frühen Abend will ich mich mit Alex treffen und es steht auch schon fest, dass wir Paris wieder verlassen. In diesen jungen Jahren hatten wir nicht das Geld aber auch nicht die Muße zu verweilen und zu genießen. Wir waren immer auf der Suche und irgendwo angekommen, mussten wir gleich wieder weiter ("heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort" sang Hannes Wader).

Auf dem Rückweg ist unser Anlaufpunkt für eine Übernachtung nochmals das Strohlager bei Meaux. Am nächsten Tag der Heimreise kommen wir mit verbissenem Ehrgeiz tatsächlich bis kurz vor Verdun, wo wir hundemüde im Unterstand einer Bushaltestelle irgendwo an der Landstraße nächtigen. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern - oder vielleicht doch, eine verrückte Szene: Alex hält plötzlich mit seinem Mars-Mofa in irgendeinem Ort mitten in einem Kreisverkehr an, sprintet ins Gras in der Mitte des Kreisels, reißt dort ein hölzernes Richtungsschild mit der Aufschrift "Paris" von seinem Pflock und schnallt es auf den Gepäckträger. Dieses "Souvenir" wird einige Jahre seine diversen Zimmer schmücken.
Verdun mit seiner durch den ersten Weltkrieg geprägten Geschichte hat mich schon lange interessiert, aber wir wollen beide nur noch nach Hause. Und wir schaffen das tatsächlich mit Biegen und Brechen. Zu allem Überfluss wird das Mars-Mofa gegen Ende immer langsamer, aber es ist zu dunkel um nach der Ursache zu forschen. Außerdem bin ich mir auf den letzten Kilometern über Lorsch und die Bergstraße nicht mehr sicher, ob ich wieder in den Sattel käme, wenn ich einmal abgestiegen bin.
In einer Woche über tausend Kilometer auf dem VeloSoleX, da knirscht es auch in jungen Jahren im Gebälk. Doch in der Erinnerung überwiegt dieses Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, das mir ein kleines zuverlässiges Fahrzeug damals vermittelt hat.

Oktober 2003